Passionsspiele Neumarkt im 18. Jahrhundert

Passionsspiele im 18. Jahrhundert

Blüte und Verbote

Im 18. Jahrhundert erhielten die Aufführungen neue Formen mit festen Bühnen und zusätzlichen biblischen Themen. Trotz kirchlicher Verbote belegen die Spielhandschriften von 1772, wie stark die Tradition in Neumarkt verankert war.

Theaterkultur zwischen Frömmigkeit und Kritik

Lebende Bilder und erste Spielszenen

Neben den stummen Aktionen mit dramatischem Charakter, wie sie die ,,Lebenden Bilder" darstellen, wurden in die Umzüge auch echte Spielszenen eingestreut. Dazu machte man an geeigneten Orten kurz Halt und brachte eine biblische Episode zur Aufführung. 1680 ist erstmals von einer „Comoedia" zu lesen, die "in der Charwoche" gespielt wurde. Neue Dimensionen erreichten die theatralischen Inszenierungen im 18. Jahrhundert mit dem Aufbau eigener Bühnenorte. Bisweilen berichten die Protokolle und Rech nungen der Corpus-Christi-Bruderschaft von einem "Theatrum", das vor dem Rathaus „zu exhibirung einer Trauer comedi" errichtet wurde.

Neue Themen und allegorische Stücke

Neben den Passionsspielen im engeren Sinn brachte man in Neumarkt weitere Spiele mit christlichen Inhalten zur Aufführung - durchaus mit einschlägigen Verbindungslinien. 1730 spielte man in der Hofkirche eine "Fastenkomödie" mit dem Titel Die Obsiegende Liebe, die eine dramatisierte Heiligenlegende (HI. Theodosius) in direkte Beziehung zur Passion Jesu Christi, des ,,[v]or die menschliche Seel Leidente[n], yber die Sünd, Todt, Höll vnd Teuffl sigbrangente[n] Sohn [es] Gottes" setzte. Ebenso stellte ein allegorisches Trauerspiel, das (wohl) zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf "öffentlichem Theater exhibirt und vorgestellt" wurde, durch eine paralIel genführte Spielhandlung den Zuschauern das Glaubensgeheimnis der Erlösung des Menschen durch die Menschwerdung Gottes einprägsam vor Augen. Schon der Titel — Clarind, das ist die zur Gnade gefundene, bekehrte und erweckte Menschenseele — lässt die gleichnishafte Anlage erkennen. Die Perioche, d. h. das gedruckte Programmheft, leitet zum rechten Verständnis des Geschehens auf der Bühne an: „Also hat der ewige Vater und göttliche Elenathan die Welt, das ist Clarinda, den Menschen geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn in den Tod gegeben, damit der durch die Sünde gestorbene und verdorbene Mensch wieder genese und zu dem Leben der Gnade erweckt, ja in den vorigen Gnadenstand mittels des kostbarsten Blutes Christi Jesu [ . . .l gesetzt und also der Vater mit dem Menschen, der Erschaffer mit dem Geschöpf, der Beleidigte mit dem Beleidiger wiederum vereiniget und versöhnet werde."

Popularität und Kritik

Zweifellos geriet die Spielprozession mit eingefügten Passionsszenen in Neumarkt — wie auch andernorts — im 18. Jahrhundert zu einer populären Frömmigkeitsübung, und sicherlich empfanden die Gläubigen ihre Mitwirkung als ein gottgefälliges Werk. Indes ist auch in der Pfalzgrafenstadt nicht auszuschließen, dass beim einfachen „Volk" die Freude am spielerischen Spektakel den religiösen Sinn der Aufführungen mehr und mehr zu verdunkeln begann. Vielerorts scheint es im Überschwang der Spielbegeisterung zu Entgleisungen, manchmal zu regelrechten Gewaltakten gekommen zu sein, selbst wenn man in Neumarkt solche Vorfälle vehement bestritt: „derley Excess aber in hiesiger Statt noch niemahlen sich bezeiget", beteuerte der Präses der Corpus-Christi-Bruderschaft. 

Spielverbote im Zeichen der Aufklärung

Tatsächlich aber wurden im 18. Jahrhundert die tatsächlichen oder vorgeblichen Auswüchse allenthalben von der kirchlichen Obrigkeit zum Anlass für Spielverbote erhoben. Als ein besonders frühes Beispiel ist ein Mandat des bischöflichen Ordinariats in Regensburg vom 3. August 1 723 zu nennen, auch in den Nachbardiözesen Passau (1762) und Eichstätt (1766) wurden in den nächsten Jahrzehnten entsprechende Maßnahmen ergriffen. Stärker noch als die Einwände gegen Veräußerlichung und Verrohung bestimmte allerdings ein verändertes Verständnis von Religionspädagogik und -didaktik im Zeichen der Aufklärung die Vorbehalte gegen die traditionellen Frömmigkeitsformen. Im Fokus stand nunmehr die Forderung nach geläuterter, eher rational als durch sinnliches Erleben begründeter Glaubensvermittlung, konkret: die Ersetzung der sinnlich-theatralen Darbietung durch eine „Passionspredigt".  Auf Drängen des Episkopats untersagte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch die weltliche Obrigkeit die Aufführung von religiösen Schauspielen. So erging am 6. März 1 763 ein kurbayerisches Mandat, wonach „in Zukunfft dise l . . auf offenem Plaz vorgestellte Passions Tragoedien gänzlich abgeschafft sein" sollten, das wenige Jahre später mit dem kurbayerischen Generaledikt vom 31 . März 1 770 eine endgültige Bekräftigung fand. 

Die Spielhandschriften von 1772

Widerstand gegen das Verbot

Dieser Eingriff in die liebgewordene Spieltradition rief eine Flut von Gegenreaktionen der betroffenen Gemeinden hervor, und auch in Neumarkt wehrte sich die Bevölkerung leidenschaftlich gegen die Abschaffung der spielhaften Prozessionen. Tatsächlich konnte man 1772 in München eine Lockerung des Verbots erlangen. Zwar blieb die Aufführung der biblischen Leidensgeschichte auf einer Bühne im Freien weiterhin untersagt; ebenso musste der traditionelle Karfreitag durch neue Spieltage, Palmsonntag und Gründonnerstag, ersetzt werden. Aber immerhin erteilte der Geistliche Rat der Bürgerschaft das Zugeständnis, die Tradition des geistlichen Spiels wenigstens im Rathaus fortzusetzen, was allerdings den landesherrlichen Herrschaftsträger in Neumarkt auf den Plan rief. Jedoch gab der Rat der Stadt gegen dessen ausdrücklichen Willen die erbetene Spielerlaubnis, weil auf dem Rathause der Schultheiß nichts zu befehlen hätte." 

Die Handschriften als Zeugnis

Als Spielträger trat wiederum die Corpus-Christi-Bruderschaft auf; unterstützt wurde die spielwillige Gemeinde — wie in anderen Orten auch — vom lokalen Weltklerus. Im direkten Zusammenhang mit der Aufführung dürften zwei im Kern identische Spielhandschriften stehen, die in der Bayerischen Staatsbibliothek München bewahrt werden. Eines der beiden Manuskripte ist auf den 25. März 1772 datiert und überliefert, weitgehend in Reinschrift, möglicherweise den Text, der dem städtischen Rat als der Genehmigungsbehörde von den Organisatoren zur Begutachtung und Bewilligung vorgelegt wurde. (Eine kritische Edition der Spieltexte durch den Verfasser der vorliegenden Zeilen ist in Vorbereitung.) 

Letzte Spuren der Tradition

Ob es in den folgenden Jahren erneut zu einer „Inszenierung" kam, bleibt ungewiss. Offenbar aber wollte man zumindest an den figurierten Prozessionen an Fronleichnam (und am Karfreitag) festhalten, und zwar „zu mehrerer Auferbaulichkeit" der Stadt- und Landbevölkerung, wie die Bruderschaft in dem mehrfach zitierten Bittschreiben an den Kurfürsten von 1782 argumentierte. Ein Jahrzehnt später scheint das zähe Ringen der spielfreudigen Gemeinde dann ein Ende gefunden zu haben: 1793 trug man nur noch das Grab Christi durch die Stadt. Ob die figürlichen Szenerien, die bei Umzügen der Corpus-Christi-Bruderschaft zu Beginn des 19. Jahrhun­derts mitgeführt worden sein sollen, ebenfalls an das Passionsgeschehen erinnerten, lässt sich nicht entscheiden. 

 

aus der Passions Comedie von 1772

Der „Abschied Christi von seiner Mutter"


Maria 
O Jesu Sohn, 0 liebstes Kindt, 
was Angst, was Leyd, was Schmerzen,
was forcht, was schreckhen, ich empfindt,
dies Tringt mir starckh zu herzen, [ ... ]
Verlaube doch noch liebstes Kindt, 
dich mütterlich z[u] umbfangen [ ... ] 

Christus 
Leb wohl, hertzliebste Muetter Mein,
gib dich wie ich gedultig drein. (l, fol. 24)